12. Der Himmel

«Hütet euch davor, die einfachen Menschen in der Gemeinde überheblich zu behandeln. Denn das kann ich euch sagen: ihre Engel haben immer Zugang zu meinem Vater im Himmel.» (Matthäus 18:10)

Habt keine Furcht. Gott ist die Liebe.

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Predigt über Matthäus 18,10

von Jörg Machel

Emmaus- Ölberg- Kirchengemeinde Berlin Kreuzberg

«Hütet euch davor, die einfachen Menschen in der Gemeinde überheblich zu behandeln. Denn das kann ich euch sagen: ihre Engel haben immer Zugang zu meinem Vater im Himmel.»

Liebe Gäste, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gemeinde. Sofort als ich diesen Text las, klang mir die endlose Reihe in den Ohren, die im katholischen Gottesdienst erklingt:

Heiliger Laurentius bete für uns,Heilige Elisabeth bete für uns,
Heiliger Stephanus bete für uns,
Heilige Klara bete für uns,
Heiliger Franziskus bete für uns.

Und vor Augen hatte ich die Bilder der Heiligen. Die großen Augen, den sanften Blick, das weltvergessene Lächeln. Demütig tragen sie ihre Folterwerkzeuge in der Hand: glühende Kohlen, ein Schwert, einen Topf mit siedendem Öl, Steine, Kreuze, Pfeile.

Die Märtyrer der Kirche als Fürsprecher der Verfolgten und Verzweifelten. Die Märtyrer als Beispiel für Glaubenskraft und Bekennermut.

Der polnische Aphoristiker Stanislav Lec hat mein Unbehagen an diesen Gestalten auf den Punkt gebracht, als er sagte: «Ich lese Heiligenlegenden am liebsten von hinten, weil ich darauf hoffe, am Ende wieder einem Menschen zu begegnen.»

Das, liebe Freunde, ist mein Problem mit den Heiligen, sie sind mir herzlich fremd. Sie befremden mich in ihrer Naivität und Einfalt, manchmal leiden sie für Grundsätze, für die sie nicht hätten leiden sollen, ihre Rechtschaffenheit lastet oft so schwer auf ihnen, daß es auch mir zur Last wird.

Das Himmelsbild von Elisabeth Ohlson wirft ein anderes Licht auf die Gruppe unserer Fürsprecher. Sie blicken frecher drein als die mir bekannten Heiligen. Das Bild ist zwar nicht lüstern in meinen Augen, doch es ist durchaus erotisch geladen. Man hält sich im Arm und genießt die Nähe, auch körperlich.

Beim Betrachten des Bildes ist man versucht, die Gesichter wiederzuerkennen, denen man auf seinem Gang durch die Ausstellung begegnet ist. Ist hier nicht der eine oder die andere vom Christopher Street Day, jemand aus der Weihnachtsszene dort drüben oder auch aus der Gruppe im Garten Gethsemane?

Sie haben ihre Lederkluft abgelegt, die harten Jungs, und die Tunten sind abgeschminkt. Ich versuche Judas wiederzuerkennen, er müßte doch auch dabeisein, oder etwa nicht? Die Glatzen fehlen. Dürfen die nicht hinein ins Himmelreich? Hat Frau Ohlson die Hölle etwa nicht abgeschafft? Müssen sie büßen für ihr elendes Tun? Ich kann sie nicht finden!

Aber sie gehören dazu: Judas, die Skins, die Tunten, die Lederschwulen. Wir werden uns wiedersehen. Auch der Hund ist wieder da.

Klar, alle haben sich ein wenig verändert, der Hund sieht nicht mehr so martialisch aus, und auch den Messerstechern ist das finstere Gesicht abhanden gekommen.

Alle sind versammelt und umlagern Jesus. Sie sind in strahlendes Weiß gehüllt. Alle tragen die Farbe der Unschuld. Es ist kein Arg mehr an ihnen. Sie haben hinter sich gelassen, was irdisch war, das Vorläufige, das Uneigentliche. Sie haben entspannte Gesichter, sehen fröhlich aus.

Auch beim Einzug in Jerusalem sehen sie fröhlich aus, aber da sind sie noch sehr dem Ich verhaftet. Jeder ist ganz in seinem Ich gefangen, möchte Individuum sein, unverwechselbar. Das fällt ab dort oben, da muß man nichts mehr darstellen, nichts Besonderes mehr sein, sich nicht abheben von den anderen.

Lack und Leder bleiben zurück, Verrat und Mißgunst haben keinen Bestand, Haß und der Wille zu zerstören, gehören in den Alltag dieser Welt, nicht aber in die Nähe Gottes. Der Himmel ist der Ort der Liebe, und alles, was an jedem von diesen Menschen auf Erden Liebe war, das wird Bestand haben in Ewigkeit.

Doch nicht alles an diesen Menschen war Liebe zu ihren Lebzeiten.

Viel Kaputtes, Verletztes, Zerstörerisches war auch an ihnen. Und deshalb gehören sie nicht in die klassische Heiligenlitanei. Niemand von ihnen würde das Verfahren bestehen, welches man im Vatikan durchlaufen muß, bevor man auf die Liste der Heiligen kommt, bevor man zum Fürsprecher im Himmel wird und als Nothelfer angerufen werden kann.

Dort auf dem Bild sind einfache Menschen zu sehen, keine Heiligen. Aber jede und jeder von ihnen trägt dennoch etwas von der Größe Gottes, von seiner Liebe und seiner selbstlosen Hingabe in sich.

Elisabeth Ohlson versteht den Bibeltext als Appell an die Wertschätzung der kleinen Leute, der Mikroi, doch wenn von den Kleinen die Rede ist, muß ich immer auch an die Kinder denken.

Und das gehört ja vielleicht auch zusammen. Die kleinen Leute und die kleinen Kinder haben manches gemein. Sie bilden sich nicht zuviel auf sich ein, erfahren ständig ihre Grenzen, wissen um ihre Unvollkommenheit – und haben doch ein Gefühl für wahre Größe, ahnen, was im Leben wirklich zählt und Bestand haben wird.

Gerade in der Begrenztheit erleben sie sich und andere als wahrhaft menschlich und immer auch als bedroht, ganz und gar unmenschlich und unwürdig zu handeln. Sie verfügen über die ganze Palette menschlicher Möglichkeiten.

Gott schaut wohlwollend auf solche Menschen, verrät Matthäus. Er kennt ihre Grenzen, aber er kennt auch ihre Möglichkeiten, und er ist bereit, ihnen zuzuhören und zu verstärken, was an ihnen groß und gut ist.

Dort, wo das Leben pulsiert, so habe ich es selbst schon oft erlebt, ist Gotteserfahrung möglich, dort wo das Leben nicht erstickt wurde in Regeln und Gesetzen, kann Gott sich ereignen.

Idealisierungen allerdings sind unangebracht, so habe ich auch gelernt. Die Welt der Homosexuellen ist nicht die heile Gegenwelt zur bürgerlichen Verlogenheit. Es gibt viel Verzweiflung und Entfremdung auch dort. Die Brüche dieser Welt ziehen sich durch alle Schichten und Milieus.

Doch es gibt auch dort gelungenes Leben. Es gibt den Widerschein des Himmels auch unter Schwulen und Lesben.

Und um diesen Aspekt ging es bei den Auseinandersetzungen um unsere Ausstellung ganz zentral: Kommt Jesus zu den Schwulen und Lesben, um sie von ihren Sünden zu befreien oder um sie von ihrer Homosexualität zu erlösen?

Manche hat das entblößte Geschlecht in der Taufszene empört – lächerlich angesichts dessen, was wir an jedem Kiosk zu sehen bekommen. Manche hat empört, daß Jesus selbst zum Aidskranken wurde auf den Bildern – auch das ohne theologische Brisanz, finde ich!

Aber daß Jesus Stöckelschuhe trägt, darüber ist ein Diskurs lohnend. Jesus besucht die Szene nicht nur, er taucht ein in diese Welt! Damit wird Neuland betreten, darin sehe ich eine neue Qualität der Betrachtung.

Doch gerade nach dieser Beobachtung ist es nötig, weiter auf das Detail zu achten: Jesus bleibt in seiner weißen Kutte dargestellt. Er bleibt mit der Farbe der Unschuld bekleidet. Für mich eine klare Aussage: Ja, es ist möglich, schwul oder lesbisch zu sein und doch ganz nahe bei Gott zu bleiben. Wir werden nicht Sünder und Sünderinnen durch unsere sexuelle Orientierung, sondern dadurch, daß wir sie nicht gottgemäß leben.

Im Zusammenleben von Menschen, gerade im Kraftfeld der Sexualität, gibt es so unendlich viele Möglichkeiten zu verletzen und zu zerstören, Verantwortung auszublenden und sich selbst zu verlieren, daß es nicht einfach nur Spießigkeit war, wenn die alte Kirche in der Sexualität das Einfallstor der Sünde sah. Aber sie hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Sie hat das Geschlechtliche selbst verdammt, statt ihm einen guten und förderlichen Rahmen zu geben.

Liebe Gemeinde, das wünsche ich uns allen, Homosexuellen wie Heteros, daß wir in der Sexualität einen Widerschein jener Liebe finden, die uns auf diesem Bild vom Himmel begegnet.

AMEN