Die Liebe bedarf des Schutzes

Besinnung
… zu Familie und Lebensformen in biblischer Sicht

Die Lebensform der Familie ist wie die Gesellschaft im ganzen in einem ständigen geschichtlichen Wandel begriffen. Der Prozess der Individualisierung erfasst immer mehr auch die Institutionen der Ehe und der Familie und begünstigt eine Vielfalt von Lebensverläufen und Lebensformen. Die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, der Ein-Eltern-Familien wie der Singles und Ein-Personen-Haushalte, hat als Ausdruck dieser Individualisierung in den letzten dreissig Jahren erheblich zugenommen. In weniger als zwei Prozent der Haushalte leben noch drei und mehr Generationen unter einem Dach. Hinter dem Wandel der Strukturen darf man nicht sogleich einen Verfall der Sitten annehmen. Auch in dem grossen Zeitraum, der die biblischen Schriften umfasst, war das Bild der Familie keineswegs einheitlich. Ein Blick auf die biblischen Traditionen kann helfen, die Vielfalt heutiger Lebensformen sachgemässer und auch gelassener zu beurteilen.

Familie in den Überlieferungen des Ersten Testaments ist die Grossfamilie, zu der der Hausvater, seine Frau(en), seine geborenen und angenommenen Kinder, seine abhängigen Verwandten und Schutzbefohlenen sowie seine Sklaven und Sklavinnen gehören. Diese Familie war patriarchal strukturiert und bildete den Verband, der die Lebensfähigkeit seiner einzelnen Mitglieder sicherte. Um der Lebensfähigkeit ihrer einzelnen Mitglieder willen steht die Familie unter dem besonderen Schutz Gottes. Das 5. Gebot (ursprüngliche Zählung) schätzt die alten Eltern, die nach Gottes Willen Anspruch auf einen würdigen Lebensabend haben. Das 7. Gebot schützt die Ehe (freilich in der patriarchalen Struktur einer unterschiedlichen Auffassung von Ehebruch, wonach der Mann Ehebruch begeht, wenn er in eine fremde Ehe einbricht, die Frau aber, wenn sie entweder in eine fremde Ehe einbricht oder aus der eigenen Ehe ausbricht). Das 10. Gebot schützt das Eigentum des Nächsten, wozu auch dessen Ehefrau gehört.

Die Familie ist neben dem Gottesdienst der Ort, wo die Tradition, die Lebensordnung Gottes, Gottes Thora weitergegeben wird (Dtn 6,20-25). Darin bekundet die Familie, dass sie zum Volk Gottes gehört, mit ihm von der Befreiung aus Ägypten und vom Bundesschluss am Sinai her identisch ist. Die Weitergabe der religiösen Tradition geschieht vorrangig in der Familie. Der Hausvater segnet die Mitglieder seiner Familie und übt die priesterlichen Funktionen der Beschneidung (Gen 21,4) und der Feier des Passahmahles aus (Ex 12,3)

Der Dekalog ist adressiert an den freien israelitischen männlichen Vollbürger und von der in der Schöpfung angelegten Ebenbürtigkeit von Mann und Frau in der Familie (Gen 1,26ff.) weit entfernt, doch verwirklicht das Sabbatgebot an jedem siebten Tag der Woche schon die klassenlose Gesellschaft der Zukunft, in der es keine Über- und Unterordnung mehr geben wird.

Die Jesusüberlieferung zeigt eine große Distanz Jesu zu Ordnung und Gestalt der Familie im genealogischen Sinn. Das im Anbruch begriffene Reich Gottes löst die Strukturen und Bindungen der Familie auf. Familie im Sinne Jesu wird nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch das Tun des Willens Gottes konstituiert. «Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter» (Mark 3,35). Der Glaube an Gott den Vater begründet Gemeinde als Familie Gottes und Geschwisterschaft Jesu. In seinen Nachfolgesprüchen stellt Jesus vor die schroffe Alternative Reich Gottes oder Familie im herkömmlichen Sinn. «Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkünde das Reich Gottes» (Luk 9,60). «Wenn jemand zu mir kommt und nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu auch sein Leben haßt, der kann nicht mein Jünger sein» (Luk 14,26 par. Matth 10,37). Die Unauflöslichkeit der Ehe (Mark 10) steht in unverkennbarer Spannung zur eindeutigen Priorität des Reiches Gottes auch vor der Bindung an die Ehefrau (Luk 14,26). Wenn das Reich Gottes vollendet sein wird, wird es die Institution der Ehe und Familie nicht mehr geben (Mark 12,18ff parr.).

Im Horizont der Naherwartung waren Ehe und Familie für Paulus kein Thema mehr. Die Ehelosigkeit hatte für Paulus eindeutig den Vorrang, aus seelsorgerlichen Gründen aber gab er ein gutes Gewissen zur Ehe («heiratest du aber, so sündigst du nicht» 1 Kor 7,28). In den späten Schriften des Zweiten Testaments, als die Wiederkunft Jesu Christi und die Verwirklichung des Reiches Gottes in eine fernere Zukunft gerückt waren, bekam die Familie in ihrer patriarchalen Struktur wieder einen hohen Stellenwert. Die Haustafeln proklamieren eine Ethik der Unterordnung und überhöhen diese religiös als in Gottes Willen begründet (der Einschub in den ersten Korintherbrief 1 Kor 14,33b-36 Eph 5,21-6,9 1 Tim 2,8-15 1 Petr 3,1-7). Die Wirkungsgeschichte ist verheerend bis auf den heutigen Tag.

Damit ist die Kirche in der ersten und zweiten Generation nach Paulus in die patriarchalen Strukturen zurückgefallen, die nicht im Evangelium begründet, vielmehr gesellschaftlich bedingt sind. Dem Evangelium entspricht die volle Ebenbürtigkeit von Mann und Frau, wie sie nach Gal 3,28 in der Gemeinde Jesu Christi verwirklicht ist: «Da ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn ihr seid alle eins in Christus Jesus». Die geschlechtlichen, sozialen, nationalen und religiösen Gegensätze sind in der Gemeinde Jesu aufgehoben.

Für die heutigen Lebensformen des Alleinseins, der Beziehungen ohne Trauschein, der unvollständigen Familien wie der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gibt es biblisch und vom Evangelium her nur das eine Kriterium «im Herrn», «aus Glauben», «in der Liebe». Nicht die Gestalt einer Lebensgemeinschaft – ob mit oder ohne Trauschein, ob gegen- oder gleichgeschlechtlich – ist entscheidend, sondern allein die Frage, ob die Lebensgemeinschaft im Geiste Jesu und das heisst in der Liebe gelebt wird. Die Ausführungen des Paulus gegen die gleichgeschlechtliche Liebe in Röm 1,24ff, können für uns heute so wenig Verbindlichkeit haben wie die patriarchale Gestalt der Familie in biblischer Zeit. Die Liebe bedarf freilich der Ordnung und des institutionellen Schutzes. Die Ordnungen und Institutionen der Liebe aber sind variabel, dem geschichtlichen Wandel unterworfen; nur die Liebe bleibt. Von daher ist die Weigerung der Kirche, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen, ein Akt der Lieblosigkeit, der so auf Dauer nicht hingenommen werden kann.

Familie in der Bibel beider Testamente heißt «Haus». Wie das Haus der Familie zu bauen ist, kann nicht für alle Zeiten verbindlich der Bibel entnommen, aus dem Evangelium abgeleitet werden. Jede Zeit muß im Geiste des Evangeliums ihr Haus der Familie errichten. Beispielhaft an der Familienstruktur des Ersten Testaments ist, dass keine Person ohne Familie leben musste, dass jeder und jede noch im Schutzraum der Familie geborgen war. Die Relativierung der Familie vom Reich Gottes her bei Jesus zeigt, dass letztlich nicht eine bestimmte Ordnung oder Institution des Zusammenlebens verbindlich ist, sondern allein die Liebe. Da Liebe in ihrer personalen Struktur auf Dauer aus ist und der heranwachsende Mensch eine lange Zeit der Reifung zur Selbständigkeit und Fähigkeit, eine dauerhafte Bindung einzugehen, benötigt, müssen Kirche und Gesellschaft alle Formen des Zusammenlebens akzeptieren und rechtlich schützen, in denen die Liebe und die Verantwortung für den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin und die Kinder Raum und Gestalt gewinnen und eingeübt werden können. Jede Zeit muss das Haus der Familie so bauen, dass keine Person von ihrem bergenden Schutz ausgeschlossen ist und alle Bewohner sich gegenseitig zu einem menschenwürdigen Leben in Freiheit und Verantwortung, Liebe und Toleranz verhelfen und befähigen.

Dr. Jochen Vollmer ist Pfarrer in Balingen in «Konsequenzen Nr. 1/1998»