Gutmütige Mamas und Papas wollen den Schwulen helfen

Die Ex-Gay-Bewegung schwappt aus den USA nach Deutschland.

Ein Bericht von Jens Lang

Während der Grossteil der Gesellschaft im Jahr 2000 diskutiert, ob lesbische und schwule Paare in der Bundesrepublik die Möglichkeit erhalten sollen, ihre Beziehung amtlich zu registrieren, sind viele homosexuelle Menschen noch gar nicht so weit, eine Partnerschaft überhaupt auch nur eingehen zu wollen. Gerade zu Beginn des Coming-Out-Prozesses wünschen sich noch immer viele, nicht schwul oder lesbisch zu sein. Das gesellschaftliche Klima hat sich in den letzten Jahren bedeutend verändert, aber die Angst vor dem Unbekannten, vor dem die Eltern und das Umfeld warnen, ist geblieben.

Die meisten Schwulen und Lesben im Coming-Out-Prozess finden letztlich den Weg, der zur Akzeptanz des eigenen Selbst führt. Äussere Faktoren, aber auch innere Einstellungen, können allerdings dazu führen, dass ein Homosexueller sich nicht annehmen kann mit seiner sexuellen Orientierung. Dass er dazu nicht in der Lage ist, kann dazu führen, dass er tief unglücklich ist – teilweise folgen schwere Depressionen. Viele Lesben und Schwule wünschen sich, ihre Veranlagung ändern zu können. Die Weltgesundheitsorganisation WHO führt eine Liste von international anerkannten Krankheiten, die ICD-10 (International Classification of Diseases). Darin wird der Wunsch nach einer Änderung der sexuellen Orientierung als Verhaltensstörung aufgeführt. Unter Paragraf F66.1 wird Ichdystone Sexualorientierung beschrieben:

«Die Geschlechtsidentität oder sexuelle Ausrichtung (heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder präpubertär) ist eindeutig, aber die betroffene Person hat den Wunsch, dass diese wegen begleitender psychischer oder Verhaltensstörungen anders wäre und unterzieht sich möglicherweise einer Behandlung, um diese zu ändern.»

Die Psychologen in der WHO haben umgedacht. Wo vor einigen Jahren noch Homosexualität als Verhaltensstörung aufgeführt war, heisst es nun ausdrücklich: «Die Richtung der sexuellen Orientierung selbst ist nicht als Störung anzusehen.»

Psychologische Grundlagen von 1917

In den Vereinigten Staaten hat sich in den letzten Jahren dessen ungeachtet von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt eine regelrechte Organisation aufgebaut, die homosexuelle Menschen von ihrem sündigen Treiben heilen will. Die Vertreter dieser Gruppen sind davon überzeugt, dass Homosexualität eine erlernte Verhaltensweise ist, und nicht eine biologisch oder gar genetisch bedingte. Diese Überzeugung geht zurück auf die Anfänge der Psychotherapie, als die ersten Erklärungsmodelle für homosexuelles Verhalten entworfen wurden.

Es werden Thesen von Alfred Adler zur Erklärung bemüht, wie dessen Schrift «Das Problem der Homosexualität» von 1917. Adler war zeitweilig ein Weggefährte von Sigmund Freud. Er befasste sich unter anderem intensiv mit der Frage, ob Homosexualität erbbedingt sein könnte. Obwohl das Buch 1993 neu aufgelegt wurde, ist die Frage umstritten, ob die Texte mit den Fortschritten in psychologischen sowie der genetischen Forschung mithalten können.

In den USA haben sich die «Ex-Gay»-Organisationen schon 1976 unter dem Dachverband Exodus International zusammengeschlossen. Darunter verstecken sich verschiedene kleinere Organisationen, wie zum Beispiel «The Truth about Homosexuality» Diese war Anfang des Jahres 2000 zu einer gewissen Bekanntheit gelangt, als sie den 21-jährigen Wade Richards den amerikanischen Medien als geheilten Schwulen präsentiert hatte. Im September 2000 hatte der Spuk ein überraschendes Ende, als Richards sich als Ex-Ex-Gay outete und zugab, für die Auftritte von der Organisation bezahlt worden zu sein. Er gestand vor der Presse: «Es gab in meinem Leben schon viele Höhen und Tiefen. Aber wenn es etwas beständiges gibt, dann ist das mein Schwulsein.»

Homosexualität: «Zeichen von zerbrochener Jesus-Beziehung»

Exodus selber machte von sich reden, als ihr Vorsitzender für Nordamerika, John Paulk, in einer Schwulenkneipe in Washington D.C. erwischt wurde. Seine Reaktion: er habe in der Bar nur pinkeln wollen. Unterhalb des Exodus-Daches finden sich neben anderen teils undurchsichtigen Organisationen auch die Desert Stream Ministries.

Deren Gründer Andy Comiskey geniesst in der Vereinigung einen Kultstatus sondersgleichen. Im Rahmen seiner seelsorgerlichen Arbeit hatte er in den achtzigern Jahren das Programm Living Waters als Heilungs- und Jüngerschaftsprogramm erfunden. Von ihm stammt die These, dass Homosexualität die Folge einer gebrochenen Beziehung zu Jesus Christus ist. Mittlerweile unterhält Desert Stream alleine in den Vereinigten Staaten siebzig Living-Waters-Gruppen. Diese sollen denen helfen, die nach Meinung von Desert Stream sexuelle Störungen aufzeigen aufgrund der fehlenden Bindung an den Heiland.

Vor zehn Jahren fand Günter Baum den Weg zu Desert Stream. Der damals 32-jährige kam aus christlichem Hintergrund im Fränkischen. Als Aktiver in der Jesus-People-Bewegung hatte er seinen religiösen Weg begonnen. Dass er auf der einen Seite mit anderen Männern sündigte, kompensierte Baum damit, dass er sich andererseits im Reich Gottes engagierte. Als er 1990 dem Desert-Stream-Guru Andy Comiskey in Deutschland begegnete, konnte der ihn schnell mit seinem Umpolungsprogramm begeistern. Baum ging in die USA und nahm an dem Schwul-Entwöhnungsprogramm teil: «Das hat mich sehr angesprochen. Da lief nicht alles auf einer intellektuellen Ebene ab, da wurde auch gebetet, und Heilungsgebete mit einem verrichtet.»

Seminarleiter ohne psychologische Grundlagen

Doch auch nach dem Programm fühlte er sich nicht heterosexueller als vor seinem Besuch. Dennoch hoffte er, anderen helfen zu können und entschloss sich, eine deutsche Gruppierung von Desert Stream aufzubauen. Von Comiskey dazu ermutigt, gründete er 1994 in Deutschland die Organisation Wüstenstrom. In den folgenden Monaten führte er zahlreiche Seminare durch – diese wurden über die Deutsche Gesellschaft für christliche Psychologie IGNIS abgerechnet.

Seine Verunsicherung über die Gruppe, die er da aufbaute, nahm zu, als er feststellte, dass bei vielen Heilungswilligen weniger die Homosexualität ein Problem war, als vielmehr ein ausgeprägter Selbsthass. Zum Aufbau der Gruppe gehörte auch die Ausbildung weiterer Seelsorger in einem fünftägigen Crash-Kurs. Heute sagt Baum rückblickend: «Das machte mir etwas Bauchschmerzen, weil ich merkte, da ist keinerlei Hintergrund in Form von psychologischem Grundwissen da. Das waren oft so gutmütige Mamas und Papas, die einfach den armen Schwulen helfen wollten.»

Nach zwei Jahren Arbeit für Wüstenstrom, konnte Günter Baum seine Gefühle nicht mehr vor sich selber verstecken. Obwohl er sich als «Mister Ex-Gay-Germany» fühlte, verspürte er keinerlei Zeichen von Heilung. Als er das Comiskey gestand, hiess es, das sei ein gutes Zeichen: das bedeute, er sei auserwählt. In Berlin kam es dann 1996 zu einem sexuellen Abenteuer mit einem Mann. Nach seinem Geständnis wurde Baum sofort all seiner Ämter enthoben und aus der Organisation ausgeschlossen. Er befindet sich in bester Gesellschaft: der Vizepräsident von Desert Stream, Michael Davis, wurde nach einem Rückfall ebenfalls verstossen. Ebenso erging es der englischen Initiative True Freedom Trust, deren Direktor sündigte.

Der Zusammenbruch von Günter Baums bisheriger Welt im Alter von 38 Jahren führte dazu, dass er sich erst einmal einer echten Psychotherapie unterziehen musste. Sein Therapeut riet ihm dringend, seine Homosexualität zu akzeptieren. Heute lebt Günter Baum als offen schwuler Mann in der Schweiz. Dort hat er die Initiative Zwischenraum gegründet, die Menschen helfen soll, die wie er an Wüstenstrom und ähnlichen Organisationen zerbrochen sind. Seine Arbeitskraft widmet er u.a. der Baseler Lesbischen und Schwulen Basiskirche. Zwischenraum soll zeigen, dass «sich Christsein und Schwulsein nicht ausschliessen». Dass das geht, hofft Günter Baum nach sechs Jahren Wüstenstrom und anschliessenden eineinhalb Jahren Psychotherapie endlich gelernt zu haben.

Aus rechtlichen Gründen Beratungen statt Therapien

Nach Günter Baums Rausschmiss übernahm der Theologe Markus Hoffmann die Führung von Wüstenstrom Deutschland. Zentrum der bundesweit aktiven Vereinigung ist heute die schwäbische 12.000-Seelengemeinde Tamm in der Nähe von Stuttgart. Hier hat Markus Hoffmann nach eigenen Angaben schon «mehr als hundert» Schwule und Lesben behandelt. Der Grossteil davon soll heute keine homosexuellen Gefühle mehr haben. Der gelernte Sozialpädagoge und Diakon Markus Hoffmann hat wie viele bei Wüstenstrom keine psychologische Ausbildung. Daher sind es auch keine Therapien, die er durchführt – sondern «Beratungen».

Für Beratungen verlangt Wüstenstrom Geld. Laut Hoffmann gibt es keine festen Gebührensätze, vielmehr bitte man die Patienten um «Spenden». Diese sollen sich im Rahmen um die sechzig Mark bewegen. Behauptungen, dass teilweise pro Stunde 180 Mark verlangt worden seien, weist Markus Hoffmann entschieden zurück. Dem Verein gehe es finanziell schlecht, sagt er. Aber Wüstenstrom leistet sich mehrere festangestellte Mitarbeiter und eine gehobene Büroausstattung. Zudem bringt man von Tamm aus grosse Menge an Faltblättern und Broschüren unters Volk, die äusserst professionell wirken. Die Frage, ob es Wüstenstrom tatsächlich so schlecht geht, erscheint in dem Licht noch interessanter.

Ohne Markus Hoffmann wäre die Arbeit bei Wüstenstrom kaum denkbar. Sein eigenes Coming Out als Heterosexueller habe er gehabt, nachdem er sich fragte, was er eigentlich suche, wenn er einen Mann begehre. Die simple Antwort: «Ich möchte eigentlich so sein, wie der andere ist». Es ist also Identitätskonflikt, der das Schwul- oder Lesbischsein auslöst. Bei ihm sei noch der sexuelle Missbrauch durch eine Frau hinzugekommen. Ein langer steiniger Weg soll der Prozess der Veränderung sein, der teilweise bis zu zwei Jahre dauern kann. Ihn zu begehen, wird laut Wüstenstrom im deutschsprachigen Raum in mehr als sechzehn Selbsthilfegruppen von Kiel bis Innsbruck gelehrt.

In Stuttgart sind Wüstenstrom und Markus Hoffmann spätestens seit einer Sondersendung eines Lokalradios keine Unbekannten mehr. Doch auch davor schon waren die Aktivitäten aus Tamm in informierten Kreisen bestens bekannt. Den Stuttgarter Mitgliedern des Verbandes lesbischer und schwuler Psychologen war der Name Markus Hoffmann durchaus geläufig. Kurzzeitig hatte ein email-Kontakt zu ihm bestanden, in welchem der Theologe auf einen «kritischen Dialog» gehofft hatte. Ebenfalls bekannt ist Markus Hoffmann bei der Stuttgart Theologengruppe Homosexuelle und Kirche (HUK). Zu Tagungen der Evanglischen Landeskirche werden beide Meinungen eingeholt. Hoffmann dürfte über die HUK bestens informiert sein: neben zahlreichen Coming-Out-Büchern stehen in seinem Besprechungszimmer auch die Veröffentlichungen, die die HUK herausgibt. Im Frühjahr 2001 hat Markus Hoffmann auch Kontakt zur Initiativgruppe Homosexualität Stuttgart aufgenommen – dem Stuttgarter Schwulen- und Lesbenverein. Mit ihnen wollte er gerne in einen «Erfahrungsaustausch» treten. Der Verein aber gab nicht sein Ja-Wort: der Vorstand lehnte das Gespräch ab.

Homosexuelle Gefühle als Ablenkung

Die psychologischen Grundlagen für die Veränderungsgespräche finden sich in den Schriften der amerikanischen National Association for Research and Therapy of Homosexualty und ihres Chefs Dr. Joseph Nicolosi. Er ist Psychologe in Kalifornien und behauptet, schon mehr als vierhundert Schwule und Lesben behandelt zu haben. Nicolosi unterteilt seine homosexuellen Patienten in drei gleich grosse Gruppen: ein Drittel könne die homosexuellen Gefühle wie «eine Ablenkung zur Seite legen». Ein weiteres Drittel lerne bei ihm Methoden, wie sie mit der homosexuellen Anziehung umgehen könnten.

Das letzte Drittel allerdings zeige keinerlei Veränderung. Nach Nicolosis Überzeugung sind sie einfach nicht genügend motiviert, um sich heilen zu lassen. Er erklärt: «Personen, die eventuell keine Veränderung erfahren, sind Leute mit schwerwiegenden psychologischen Problemen zusätzlich zur Homosexualität. Zum Beispiel, wenn sie sehr neurotisch sind, wenn sie ein unglaublich grosses Selbstunwertgefühl haben, oder wenn sie narzisstische Persönlichkeiten sind.»

Dass die Therapie den Patienten schaden könnte, wird dabei bewusst verdrängt. Im schweizerischen Baar fand 1997 eine Tagung zum Thema Homosexualität statt. Als Veranstalter traten die konservativen «Vereinigten Bibelgruppen Gesamtschweiz» mit Hauptsitz in Zürich auf. Die Bewegung versteht sich als ein Zusammenschluss von «Bildung und Glaube» und ist mit der Studentenmission Deutschland vergleichbar. Das Dossier dieser Tagung ist leicht erhältlich; die wichtigsten Ergebnisse sind darin zusammengefasst.

Nebenwirkungen: nichts als Kunstfehler

Ausdrücklich wird auch Wüstenstrom erwähnt und Markus Hoffmanns «Coming-Out-Geschichte» zitiert. Aufschlussreich ist ein Nebensatz in diesem Dossier. Er findet sich in einem Absatz, in dem das derzeitige Klima in der psychologischen Forschung kritisiert wird. Es würden «selbst nahmhafte Fachleute es nicht mehr wagen, in der Öffentlichkeit zu ihrer Meinung zu stehen.» Weiter heisst es: «Als tendenziös erscheinen die Behauptungen von Fachleuten, die nur problematische Auswirkungen von Therapie bei Homosexualität sehen und von schwerwiegenden psychischen Störungen, Dekompensation, Suizid als Folge solcher Therapie aussprechen. Wo sich eine Therapie so ausgewirkt hat, ist nach Kunstfehlern dieser Therapie und einer besseren Art von Therapie zu fragen… Wo bleibt die Sachlichkeit der Forschung?»

Die Frage nach der Sachlichkeit stellt sich im gleichen Dossier auf einer anderen Seite.Dort wird der oben zitierte Paragraf F66.1 in der ICD-10 kurzerhand uminterpretiert, der den Wunsch nach einer Veränderung selbst als Störung bezeichnet. Die Verfasser des Dossiers sehen darin aber das genaue Gegenteil: das gebe dem Patienten das Recht auf eine Veränderung: «Auf Homosexualität bezogen heisst das: Betroffene, die an ihrer homosexuellen Ausrichtung leiden und sich verändern wollen, sollen eine Therapie erhalten dürfen.»

Die grossen psychologischen Berufsverbände geben sich in der Frage, ob Homosexualität zu heilen sei, bislang eher bedeckt. Dass es auch anders geht, hat im Juli die Australische Psychologische Gesellschaft gezeigt: sie verurteilte explizit Therapien, mit denen Homosexuelle in Heterosexuelle verwandelt werden sollten.

Jens Lang ist freier Journalist in Stuttgart. Er beschäftigt sich seit über einem Jahr mit der Seelsorgeorganisation Wüstenstrom und der Ex-Gay-Bewegung in Deutschland.

Der Text wurde erstmals 2003 hier eingestellt.